Publié le 10 mai 2024

Ein 10 Jahre altes 5-Sterne-Euro-NCAP-Rating ist keine Garantie für Sicherheit, sondern oft eine trügerische Falle für Käufer.

  • Die passive Sicherheit altert: Materialermüdung und strengere Testprotokolle entwerten alte Bewertungen massiv.
  • Ein 30-minütiger, fokussierter Check der Karosseriestruktur ist aufschlussreicher als jedes veraltete Zertifikat.

Empfehlung: Eignen Sie sich den kritischen « Gutachter-Blick » an, um die strukturelle Integrität selbst zu bewerten und sich nicht von glänzenden Oberflächen täuschen zu lassen.

Der Kauf eines Gebrauchtwagens in der Schweiz ist ein vernünftiger Schritt. Doch die Verlockung ist gross: Ein 12-jähriges Premium-Modell, einst mit fünf Euro NCAP-Sternen ausgezeichnet, steht zu einem Bruchteil des Neupreises da. Viele Käufer verlassen sich auf diese historische Bewertung und eine oberflächliche Prüfung des Servicehefts. Sie führen eine Probefahrt durch, achten auf verdächtige Geräusche und fühlen sich sicher.

Dieser Ansatz ist jedoch gefährlich. Er ignoriert eine fundamentale Wahrheit, die professionelle Gutachter kennen: Sicherheit altert. Die Materialien einer Karosserie ermüden, passive Sicherheitssysteme wie Airbags und Gurtstraffer verlieren an Zuverlässigkeit, und vor allem werden die Testverfahren von Organisationen wie Euro NCAP kontinuierlich verschärft. Die fünf Sterne von gestern entsprechen oft nicht einmal mehr drei Sternen nach heutigen, weitaus anspruchsvolleren Kriterien.

Aber was, wenn die wahre Sicherheit nicht im Zertifikat von damals, sondern in Ihrer Fähigkeit liegt, das Fahrzeug heute kritisch zu bewerten? Dieser Artikel ist kein gewöhnlicher Ratgeber. Er vermittelt Ihnen das Protokoll und den « Gutachter-Blick », um in 30 Minuten die entscheidenden Risiko-Indikatoren an einem Gebrauchtwagen selbst zu erkennen. Sie lernen, die strukturelle Integrität zu prüfen, Mythen zu entlarven und eine fundierte Entscheidung zu treffen, die Ihre Familie wirklich schützt.

Wir führen Sie durch die entscheidenden Prüfschritte, entschlüsseln die Fallstricke veralteter Sicherheitsbewertungen und zeigen Ihnen, wie Sie sich als Käufer effektiv vor teuren und gefährlichen Fehlentscheidungen schützen. Folgen Sie diesem Leitfaden, um die Spreu vom Weizen zu trennen.

Warum ein 12 Jahre altes Fahrzeug bei identischem Euro NCAP Rating 50% weniger Schutz bietet als ein aktuelles Modell?

Die fünf Sterne auf einem alten Euro NCAP-Zertifikat sind das wohl am meisten missverstandene Verkaufsargument auf dem Gebrauchtwagenmarkt. Als Gutachter sehe ich täglich, wie Käufer diesem Trugschluss erliegen. Die Annahme, Sicherheit sei eine statische Eigenschaft, ist falsch. Die Realität ist die Sicherheitsalterung: ein kombinierter Effekt aus strengeren Testnormen und physischer Degradation, der den realen Schutzwert eines Fahrzeugs über die Jahre drastisch reduziert.

Erstens werden die Euro NCAP-Tests etwa alle zwei bis drei Jahre signifikant verschärft. Ein Fahrzeug, das 2012 einen Frontalaufprall mit 64 km/h meisterte, müsste heute zusätzlich den anspruchsvollen « Small Overlap »-Crashtest bestehen, bei dem nur ein kleiner Teil der Front die Energie absorbiert. Zudem werden heute aktive Sicherheitssysteme wie Notbremsassistenten bewertet, die damals kaum existierten. Ein Top-Modell von 2012 würde heute mit grosser Wahrscheinlichkeit nur noch zwei oder drei Sterne erhalten.

Zweitens unterliegt jedes Fahrzeug einer physischen Alterung. Dies betrifft nicht nur sichtbaren Rost. Die chemischen Treibsätze in Airbags und Gurtstraffern können nach 10-15 Jahren an Wirksamkeit verlieren. Verklebungen und Schweissnähte der Karosserie, die für die Stabilität der Sicherheitszelle entscheidend sind, werden durch Vibrationen und Temperaturschwankungen über Jahre beansprucht. Selbst moderne Fahrzeuge sind nicht vor Mängeln gefeit: Der ansonsten hoch bewertete Tesla Model 3 fiel im TÜV-Report 2024 durch eine hohe Mängelquote bei jungen Fahrzeugen auf, was beweist, dass eine Bewertung zum Zeitpunkt der Markteinführung keine dauerhafte Sicherheitsgarantie ist.

Der Irrglaube, ein altes Premium-Fahrzeug sei per se sicherer als ein neuer Kleinwagen, ist damit widerlegt. Ein modernes Fahrzeug, das nach heutigen Standards konzipiert und getestet wurde, bietet fast immer einen überlegenen Schutz, selbst wenn es einer günstigeren Klasse angehört. Verlassen Sie sich daher nie blind auf das Baujahr oder die Marke.

Wie prüfen Sie bei der Besichtigung in 7 Schritten, ob Airbags, Gurtstraffer und Sicherheitszelle intakt sind?

Nachdem wir die Theorie der Sicherheitsalterung verstanden haben, folgt die Praxis. Mit dem « Gutachter-Blick » können Sie in wenigen Minuten die Integrität der wichtigsten passiven Sicherheitssysteme prüfen. Vergessen Sie für einen Moment den Motor und konzentrieren Sie sich auf die Struktur. Dieses 7-Schritte-Protokoll ist Ihr wichtigstes Werkzeug bei der Besichtigung.

  1. Spaltmass-Analyse mit der Münze: Nehmen Sie eine Schweizer 1-Franken-Münze. Führen Sie diese entlang der Spalten zwischen Türen, Motorhaube, Kotflügeln und Kofferraumdeckel. Die Spaltmasse müssen über die gesamte Länge gleichmässig sein. Klemmt die Münze an einer Stelle oder ist der Spalt deutlich breiter, ist das ein starker Risiko-Indikator für einen schlecht reparierten Unfallschaden.
  2. Lackdicken-Check per Sichtprüfung: Betrachten Sie das Fahrzeug aus einem flachen Winkel bei gutem Tageslicht. Suchen Sie nach Unterschieden im Farbton oder der Oberflächenstruktur (« Orangenhaut ») zwischen verschiedenen Karosserieteilen. Nachlackierte Bereiche deuten auf eine Reparatur hin.
  3. Kontrolle der Airbag-Abdeckungen: Prüfen Sie die Abdeckungen der Airbags am Lenkrad, Armaturenbrett und an den A-Säulen. Gibt es Farbunterschiede, unsaubere Kanten oder Spuren von Klebstoff? Dies kann darauf hindeuten, dass Airbags nach einer Auslösung nicht fachgerecht ersetzt wurden.
  4. Funktionstest der Gurtstraffer: Ziehen Sie jeden Sicherheitsgurt schnell und ruckartig aus der Verankerung. Er muss sofort blockieren. Rollen Sie ihn danach langsam wieder auf. Er sollte sich ohne zu stocken oder zu klemmen einziehen.
  5. Sichtprüfung der Längsträger: Blicken Sie (notfalls mit einer Taschenlampe) in den Motorraum und von unten auf die Längsträger. Das sind die massiven Träger, die vom Motorraum nach hinten verlaufen. Suchen Sie nach Knickspuren, Verformungen oder frischen Schweissnähten. Jede Unregelmässigkeit hier ist ein Alarmsignal für einen schweren Frontalaufprall.
  6. Prüfung der Türdichtungen: Ziehen Sie die Gummidichtungen an den Türeinstiegen vorsichtig etwas ab. Darunter sollten Sie die originalen Punktschweissnähte des Herstellers sehen. Fehlen diese oder sind sie durch eine durchgehende Naht ersetzt, wurde hier massiv repariert.
  7. Kontrolle der Warnleuchten: Drehen Sie den Zündschlüssel auf Position II (ohne den Motor zu starten). Alle Warnleuchten, insbesondere die rote Airbag-Leuchte (SRS), müssen kurz aufleuchten und dann erlöschen. Bleibt die Airbag-Leuchte an oder leuchtet sie gar nicht erst auf, liegt ein Defekt im System vor.

Diese Prüfung ersetzt keine professionelle Inspektion, die schnell 300 bis 500 CHF für eine MFK-Vorbereitung kosten kann. Sie gibt Ihnen aber eine solide, evidenzbasierte Grundlage, um Fahrzeuge mit schweren, versteckten Vorschäden sofort zu identifizieren und aus Ihrer Auswahl zu eliminieren.

Detailaufnahme der Spaltmass-Prüfung mit Schweizer Franken Münze an Autotür
Rédigé par Stefan Brunner, Stefan Brunner ist Sicherheitsingenieur und zertifizierter Euro NCAP Crash-Analyst mit 16 Jahren Erfahrung in der Fahrzeugsicherheitsentwicklung. Er arbeitete für einen führenden Automobilzulieferer in der Schweiz und ist heute unabhängiger Gutachter für Fahrzeugsicherheit und ADAS-Systeme.